Nachdem ich nach einer langen Reise, einem unerwartet langen Aufenthalt in diesem unglaublichen Land und vielen unvergesslichen Erlebnissen an der nordwestlichen Küste Neuseelands Nordinsel angekommen bin, lag nun die letzte Prüfung zwischen mir und meinem Ziel am Cape Reinga: Der 90 Mile Beach.
Te-Oneroa-a-Tōhē, wie der Strand von den Maori genannt wird, bedeutet: Der lange Strand von Tōhē.
Weshalb die englischen Siedler denselben Strand 90-Mile-Beach nannten, ist bis heute nicht klar. Klar ist bloß, dass sie mit ihrer Messung ordentlich daneben lagen. Der Strand selbst ist nämlich 88 Kilometer (55 Meilen) lang – und nicht 90 Meilen. Eine Theorie besagt, dass die Siedler drei Tage benötigten, um den Strand mit ihren Pferden der Länge nach zu überqueren. Normalerweise legten sie 30 Meilen am Tag zurück und gingen daher von einer gesamten Länge von 90 Meilen aus. Die Rechnung haben sie aber ohne den weichen Sand gemacht. Eine ziemlich laxe Methode zur Distanzmessung.
Nicht bloß wegen dem weichen Sand und der deswegen langsamen Geschwindigkeit zu Fuß ist der 90-Mile-Beach unter Te-Araroa-Wanderern berüchtigt:
Er gilt als eine der abgelegensten Gegenden des Landes mit Geschichten von Rudeln wilder und potentiell aggressiver Hunde, die in der Dämmerung und nachts hier auf die Jagd gehen. Und natürlich die mentale Herausforderung eines 3 bis 5 Tage andauernden Strandspaziergangs mit nichts als Ozean zur Linken und scheinbar endlosen Sanddünen zur Rechten (aus Northbound-Perspektive, also von Süden nach Norden gehend).
Auf meinem Weg zum Strand selbst hatte ich noch einige Kilometer Straßen-Wandern vor mir. Hier durfte ich unter anderem an erstaunliches Bambus-Gebüsch und interessante Briefkästen bewundern:
Da Harriet zu diesem Zeitpunkt mit dem Van in der Nähe war, trafen wir uns am Abend an einem Campingplatz, kochten zusammen ein leckeres Abendessen und machten es uns gemütlich.
Jede Menge Sand
Am nächsten Morgen ging es los. Vor mir lagen über 80 Kilometer Strand. Endlose Sanddünen erstrecken sich, soweit das Auge reicht – und das Auge reicht hier sehr weit.
Ich hörte Geschichten von Wanderern, die sich vorgenommen haben, den Te Araroa Trail zu laufen und aus Amerika oder Europa nach Neuseeland gereist sind, um ihre Wanderung im Norden zu beginnen und nach ein bis zwei Tagen aufzugeben. Ich konnte das lange nicht nachvollziehen. Wer sich vornimmt, einen Fernwanderweg zu laufen, muss sich zumindest ansatzweise darüber im Klaren sein, dass hier eine ganze Menge Laufen nötig ist, um das Ziel zu erreichen.
Doch hier am Strand angekommen, konnte ich sehen, wieso. Strandspaziergang hin oder her – die mentale Herausforderung ist nicht zu unterschätzen. Wenn man 8 bis 12 Stunden am Tag nichts anderes sieht als Sand auf der einen Seite und Wasser auf der anderen, hat das eine sehr interessante Wirkung auf den Geist.
Und auch die physische Challenge ist nicht ohne: Zwar geht es die ganze Zeit geradeaus ohne irgendwelche Berge oder Hügel, die absolviert werden müssen. Doch der Sand ist gerade bei Hochwasser sehr weich, was jeden Schritt ein kleines bisschen anstrengender macht als beim Laufen auf festem Untergrund.
Und gerade für jemanden, der die Wanderung im Norden beginnt, das Pensum an Bewegung noch nicht gewohnt ist und mit dem Strand anfängt, muss dieser Abschnitt eine echte Bewährungsprobe darstellen.
Für mich dagegen war das Ziel, das ich so lange vor Augen hatte, nun zum Greifen nahe. Aufgeben war keine Option und kam mir auch nicht in den Sinn.
Die letzten Tage sind angebrochen und ich war hin und hergerissen zwischen der Vorfreude, endlich zu beenden, was ich im Februar 2020 begonnen hatte und der Frage, was im normalen Leben abseits des Trails auf mich wartete. Und ich hatte reichlich Zeit zum Nachdenken.
90-Mile-Beach – Einen Schritt vor den anderen
Ich war mir zuvor nicht wirklich darüber im Klaren, WIE LANG ein Tag sich doch anfühlen kann. 24 Stunden sind 24 Stunden, schon klar. Doch wie subjektiv und situationsabhängig meine Wahrnehmung der Zeit ist, wurde mir erst klar, als ich mehr als 10 Stunden des Tages ununterbrochen über die endlos scheinenden Sandflächen des 90-Mile-Beaches stapfte.
In meinem Kopf wechselten sich Mantras wie “Einen Schritt vor den anderen” mit unerträglichen Ohrwürmern irgendwelcher Radio-Songs ab, die sich während meiner Arbeitszeit in Deutschland und in den Obstgärten Neuseelands beim Fruit-Picking in meine Großhirnrinde gebrannt hatten.
Ich dachte an Familie, Freunde, vergangene Zeiten und die Zukunft. Schließlich schaute ich auf die Uhr und sah, dass gerade einmal eineinhalb Stunden vergangen sind. Mist.
Ich verstand etwas mehr, was Meditation wirklich bedeutet. Blaise Pascal sagte einmal: “Alles Übel rührt daher, dass wir unfähig sind, alleine in einem Stillen Raum zu sitzen”. Und ich kann jetzt sehen, was er damit meinte. Gerade heute, in einer Zeit in der ununterbrochene Unterhaltung und das Wissen der gesamten Welt bloß eine Daumenbewegung weit weg im Smartphone wartet und Aufmerksamkeit die neue, weltweite und universelle Währung ist, ist es schwierig sich nicht beim kleinsten Anzeichen von Langeweile direkt mit etwas Instagram abzulenken.
Doch auch das war für mich nicht drin. Jedenfalls nicht oft. Denn das Mobilfunknetz war hier, im hohen Norden Neuseelands, sehr begrenzt und der Akku meines nun über drei Jahre alten Huawei P30 Pro hatte schon bessere Tage gesehen. Ich hatte einige Podcasts als Download gespeichert, doch traf die Entscheidung, mir jeden Tag nur ein paar Stunden am Nachmittag elektronische Unterhaltung zu erlauben.
Camping und Wildpferde am 90-Mile-Beach
Also ging ich es an und setzte einen Schritt vor den anderen. Und so verging der erste Tag am Strand, bis ich nach etwa 30 Kilometern den ersten Campingplatz erreichte. Die Wildhunde von denen ich hörte war keine Spur. Doch stattdessen bekam ich diese Herden Wildpferde zu sehen!
Harriet war bereits hier und mit ihr wartete ein kaltes Ginger-Bier auf mich. Das war mit Abstand eines der besten Kaltgetränke meines Lebens bisher. Vielen Dank nochmal dafür Hattie!
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