Fernwandern – Erwartung vs Realität
Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern: Die Zeit der Vorbereitung auf meine Fernwanderung. Es war 2019 und ich steckte mitten in der Planung meines Auslandsaufenthaltes in Neuseeland. Der Plan war es, mindestens 2 Jahre lang unterwegs zu sein und ferne Länder zu erkunden. Ich saß an meinem Schreibtisch und von Fernweh getrieben durchforstete ich das Netz nach möglichen Abenteuern im Land, das so weit von meinem Zuhause entfernt war wie kein anderes. Da sah ich ein Bild von einem Wanderer mit halb zerfetzter Kleidung, wettergegerbter Haut und einem großen Wanderrucksack in einem malerischen Tal mit eisblauen Seen stehen. Darunter stand: Te Araroa – The long Pathway
Nicht einmal 10 Minuten dauerte es, bis ich die Erlebnisse des fremden Wanderers in diesem Artikel verschlungen habe und mir plötzlich sicher war: Das will ich auch!
Er erzählte davon, wie die 3000 Kilometer lange Reise ihn verändert hat. Wie die Natur eine magische Wirkung auf seine physische und psychische Verfassung hatte und wie er schließlich eine neue Lebenseinstellung kultivierte.
Er beschrieb das Aufwachen vom Zwitschern der Vögel am Trail in idyllischen Tälern. Das Baden im kristallklaren Wasser am Ende des Wandertages und die fesselnden Abenteuergeschichten der anderen Wanderer, die ihm hier und dort auf seinem Weg begegneten und manchmal begleiteten.
Es ist einfach, ein Abenteuer von der Couch aus zu romantisieren
Ich war angefixt. Den Alltag hatte ich lange satt und ich suchte nach einer Veränderung. Einer drastischen noch dazu. Das Fernwandern klang genau richtig. Ich wollte Täler, Berge und Wälder erkunden und mich mit nichts als einem Zelt, einem Schlafsack und einem Rucksack mit dem Nötigsten an Proviant und Ausrüstung auf den Weg machen. Digital Detox, wenn man so will.
Wochenlang nutzte ich jede freie Minute dazu, mich vorzubereiten, Informationen zu sammeln und mich an den Startpunkt des Trails in Neuseeland zu wünschen. Ich sah mir Videos an, in denen andere Fernwanderer von ihren Erlebnissen auf den großen Trails dieser Welt teilten und hörte Podcasts, in denen Abenteurer von langen Expeditionen in die Wildnis erzählten. Es fühlte sich gut an. Zu sagen, dass ich aufgeregt war, ist eine herbe Untertreibung. Doch Vorbereitung hin oder her: Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, was auf mich zukam.
Am Anfang des Trails (und auf dem Boden der Tatsachen) angekommen
Knapp ein Jahr später war es endlich soweit. Nach meinem 22 Stunden langen Flug nach Neuseeland und einem 3-tägigen Aufenthalt in Auckland landete ich schließlich im tiefen Süden Neuseelands in Invercargill. Ich machte noch ein paar letzte Erledigungen, besorgte mir die Verpflegung für die ersten Tage und machte mich auf zum Stirling Point, dem südlichen Trailhead des Te Araroas.
Es gab kein zurück mehr. Meine Wohnung in Deutschland war aufgelöst. Mein Job gekündigt. Ich befand mich weiter weg von meinem Zuhause als je zuvor. Hätte ich noch weiter weg gewollt, hätte ich in ein Raumschiff steigen müssen.
Mein altes Leben lag hinter mir. Was vor mir lag, waren 3000 Kilometer Fußweg. Klingt überwältigend. Doch wie überwältigend sich das wirklich anfühlen kann, durfte ich im Laufe der nächsten Wochen erfahren.
Die ersten Stunden auf dem Trail waren unfassbar aufregend. Ich stand praktisch unter Strom.
Alles war neu und ich malte mir aus, wie die nächsten Monate mein Leben auf den Kopf stellen sollten. Doch jede Aufregung, egal wie intensiv, kann von einem 35-Kilometer-Tagesmarsch relativiert werden. Die Sonne brannte brutal vom Himmel hinab und die Strecke führte zum größten Teil über geteerte Straße und schließlich an einem industriellen Schlachthof vorbei.
Welcome to Paradise… oder so?
Was in den nächten Tagen anstand: Laufen. Und zwar nicht bloß ein Spaziergang. Nein, Laufen. Den ganzen verdammten Tag.
Ich kann dich sagen hören: “Aber Timo, bist du blöd? “Du hast dich ein Jahr lang auf eine Fernwanderung vorbereitet und wunderst dich dann, dass dieses Abenteuer eine Menge Laufen mit sich bringt.” Und du hast recht. Ich hätte es wissen müssen. Doch genau da, in der ernüchternden Wahrheit, liegt eine interessante Erkenntnis: Die kühne Vorstellung eines Abenteuers vom gemütlichen und warmen Sofa zu Hause ist etwas komplett anderes als das Abenteuer selbst.
Die Videos anderer Wanderer waren 5 bis 15 Minuten lang und enthielten größtenteils die absoluten Highlights der Fernwanderns. Sie waren ein “Best of” der Erfahrung. Klar, einige erwähnten auch die Blasen, die drückenden Schuhe und die Tage, an denen man am liebsten aufgeben wollte. Von meinem Schreibtisch aus dachte ich mir “Das gehört nunmal dazu”.
Im Rahmen der Vorbereitung las ich auch vom “Hiker-Hunger”, einem unstillbaren Hungergefühl, das durch den hohen Kalorienverbrauch immer stärker wird. Ich dachte mir “Wow! Ich werde auf der Wanderung bestimmt gut Gewicht verlieren und Topfit werden!” Und ich sollte recht behalten. Ich hatte aber keine Ahnung, wie sich die Realität auf dem Trail wirklich anfühlen sollte.
Man kommt sich selbst und seinen Gefühlen sehr nahe, nachdem man 50 Kilometer am Stück mit schmerzenden Füßen durch die dunkle Pampa läuft. Worte wie “Langeweile” und “Hunger” bekommen auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Übrigens: Auch der Besuch von fast randvollen Campingtoiletten, das Schlafen in uralten, baufälligen und von Ratten befallenen Schutzhütten sowie Infektionen der gerissenen Hornhaut unter den Füßen gehören zum Fernwandern dazu. Klingt toll, oder?
Ein echtes Abenteuer
Doch bevor du den Eindruck bekommst, dass eine Fernwanderung nur Quälerei ist, lass mich diesen Gedankengang nach Hause bringen.
Ein Abenteuer ist per Definition eine gefahrenträchtige Reise in unbekanntes Gebiet. Und eines war mir auf dem Trail bald klar: Diese Wanderung brachte mich nicht bloß körperlich an atemberaubende Orte in Neuseeland und gleichzeitig an meine physischen Grenzen, sondern auch mental immer wieder in unberührtes Terrain. Ich musste lernen, mit mir selbst und meinen Gedanken klarzukommen. Ich verbrachte lange Zeit allein, bloß umgeben von der Wildnis. Da kommen irgendwann all die Gedanken auf, die man lange Zeit im normalen Alltag erfolgreich unterdrückt und zur Seite geschoben hat.
Auf dem Trail gibt es meistens kein Internet. Kein Instagram, dass man beim kleinsten Anzeichen von Langeweile oder bei unangenehmen Gefühlen und Gedanken instrumentalisieren kann, um sich einmal mehr erfolgreich abzulenken. Kein Kühlschrank in der Küche oder Supermarkt um die Ecke, der einen mit süßen und salzigen Kalorienbomben versorgt, wenn das Trübsal an der Tür klopft.
Das einzige, was der Trail im Überfluss bereitstellt, sind Kilometer über Kilometer und die Gewissheit, dass es nur eine Antwort gibt: Egal wie aussichtslos die Situation auch scheinen mag: Es gibt nur einen Weg. Einen Schritt vor den anderen.
Diese Erfahrung, das Unangenehme zu akzeptieren und schließlich dadurch zu wachsen und die Erkenntnis, dass oft auf die härtesten und schwierigsten Tage einer der besten und schönsten Tage folgte, haben das Fernwandern für mich zu einem unglaublich bereichernden Erlebnis gemacht.
- Blue Eye in Albanien: Ein Sprung ins kalte Nass - 18. Januar 2024
- Angeln im Winter: Tipps und Tricks für die kalte Jahreszeit - 30. Oktober 2023
- Wildkamera Test 2024 | 9 Top-Modelle zur Tierbeobachtung - 29. September 2023
Eine Antwort auf „Fernwandern – Erwartung vs Realität“
Einfach geil geschrieben! “Wettergegerbte Haut” ich krieg ein hoch 😀
Es macht immer wieder Spaß deine ehrliche eigene Meinung zu hören. Dadurch fühlt man sich schon fast wie dabei, einfach Klasse.